Ein jahrelang übersehener Steinbruchfund rückt Syrien in ein neues Licht – zwischen Messdaten, Konflikt und einer verblüffenden Rekonstruktion.
Was als Routinearbeit in einem Kalksteinbruch begann, führte zu einer wissenschaftlichen Überraschung. Ein nahezu vollständiges Fossil einer Meeresschildkröte bringt neue Ordnung in Stammbäume, Datierungen und Karten der Urmeere.
Die akte Syriemys lelunensis
Im Steinbruch Al-Zarefekh auf dem Berg Sema’an entdeckten Arbeiter bei einer kontrollierten Sprengung ein außergewöhnlich gut erhaltenes Exemplar. Der Eigentümer übergab das Stück den geologischen Behörden in Aleppo. Dort lag es mehr als ein Jahrzehnt in einem Magazin, bis eine internationale Arbeitsgruppe es prüfte und beschrieb.
Das Fossil, katalogisiert als GEGMRD 0002, repräsentiert eine neue Gattung und Art: Syriemys lelunensis. Die Datierung führt ins frühe Eozän – rund 50 Millionen Jahre vor heute. Für die syrische Forschung markiert das Stück einen Wendepunkt: Es handelt sich um den ersten wissenschaftlich publizierten Wirbeltierfund des Landes.
Erster dokumentierter Wirbeltierfossilfund Syriens, datiert auf etwa 50 Millionen Jahre: ein Referenzpunkt für die Region.
So kam der zufallsfund ans licht
In industriellen Steinbrüchen zerlegen Sprengungen Gesteinsschichten oft großflächig. Genau dadurch öffnete sich auch hier eine fossilführende Bank. Statt der üblichen Panzerfragmente blieb ein Verbund erhalten, der Becken- und Oberschenkelknochen umfasst. Diese anatomische Vollständigkeit machte eine genaue Analyse möglich.
Was das skelett verrät
Mit hochauflösender Computertomographie rekonstruierte das Team ein 3D-Modell, ohne das Fossil weiter freizulegen. So ließen sich feine Merkmale prüfen, die bei reiner Freipräparation leicht verloren gehen.
- Sieben verlängerte Neuralplatten entlang der Rückenlinie
- Ein schmaler Hinterhauptbereich am Schädel
- Eine flache Analaussparung am hinteren Panzer
- Erhaltenes Becken und Oberschenkelknochen – selten in Meeresschildkrötenfossilien
- Panzerlänge: 53 Zentimeter, oval, nach hinten leicht verschmälert
Diese Kombination lässt sich keiner bekannten Art zuordnen. Genau darin liegt die Begründung für die neue Gattung. Morphologische Details zeigen Anpassungen an ein flaches, warmes Schelfmeer mit Küstenhabitaten, in dem schnelle Manövrierbarkeit wichtiger war als pure Größe.
| Parameter | Wert |
|---|---|
| Gattung/Art | Syriemys lelunensis |
| Inventarnummer | GEGMRD 0002 |
| Alter | Frühes Eozän, ca. 50 Mio. Jahre |
| Panzerlänge | 53 cm |
| Fundort | Al-Zarefekh-Steinbruch, Berg Sema’an, Nordsyrien |
Die abstammung im neuen licht
Die phylogenetische Analyse setzt Syriemys in unmittelbare Nähe zu Cordichelys antiqua aus Ägypten, die aus dem späten Eozän stammt. Dieser Befund verschiebt den Ursprung der Stereogenyini – einer Gruppe ausgestorbener Meeresschildkröten – deutlich nach vorn.
Der Stammbaum rückt um mehr als zehn Millionen Jahre nach hinten: Stereogenyini hat einen älteren Startpunkt als gedacht.
Die nordsyrische Küste lag damals an einem warmen Flachmeer, verbunden mit dem Tethysraum. Sedimente, Fossilien und Isotopensignaturen deuten auf stabile Wassertemperaturen und reichhaltige Küstenökosysteme hin. Genau solche Bedingungen fördern Experimente der Evolution: neue Körperformen, neue Ernährungsweisen, neue Wanderwege.
Daraus erwächst ein geopaläontologischer Schluss: Das Mittelmeergebiet könnte ein Ursprungsraum für die Diversifizierung dieser Linie gewesen sein, bevor sich Nachfahren nach Afrika, in die Karibik und in den Indischen Ozean verbreiteten.
Was das für datierungen bedeutet
Fossilzeit ist präziser als ihr Ruf. Das Team nutzt Stratigraphie, Mikrofaunen und Vergleichsfossilien, um das Alter zu fixieren. Weil Cordichelys jünger ist, dient Syriemys als neuer Ankerpunkt. So verschiebt sich nicht nur ein Name im Stammbaum, sondern ein gesamter Abschnitt der Meeresreptiliengeschichte.
Forschung im schatten des konflikts
Mehr als ein Jahrzehnt Krieg hat Feldarbeit, Sammlungszugang und internationale Kooperation in Syrien massiv erschwert. Umso bemerkenswerter wirkt die Rettung des Materials aus einem Depot, die Leitung durch die syrisch-brasilianische Paläontologin Wafa A. Al‑Khalabi und die Einbindung in ein globales Netzwerk.
Der Fund gehört zur Initiative „Recovering Lost Time in Syria“. Das Programm durchforstet Sammlungen, die vor dem Krieg angelegt wurden. So kommen Stücke auf den Tisch, die bisher niemand systematisch untersucht hat – ein stilles Reservoir wissenschaftlicher Chancen.
Aus einem übersehenen Depotstück wird ein Bezugspunkt der Paläontologie – dank koordinierter Arbeit über Grenzen hinweg.
Wie methoden den blick schärfen
Die CT-Daten erlauben Messungen, die Handpräparation nicht liefern kann: Wandstärken, Nahtverläufe, Verwachsungen. Diese Parameter fließen in morphometrische Matrizen ein. Algorithmen testen, an welchen Stellen ein Taxon im Stammbaum am besten passt. So entsteht eine Hypothese, die sich mit neuen Funden prüfen und verfeinern lässt.
Aus den Proportionen von Panzer und Gliedmaßen lässt sich die Schwimmökologie abschätzen. Schlankere Hinterränder deuten auf wendige Küstenbewohner. Massivere Panzerränder sprechen für Brandungszonen. Syriemys liegt dazwischen – agil, aber mit einem stabilen Profil für seichte Gewässer.
Warum euch das betrifft
Solche Funde liefern Vergleichswerte für heutige Veränderungen. Wenn Warmzeiten in der Erdgeschichte Küstenräume erweiterten, reagierten Meeresschildkröten mit Ausbreitungen und Spezialisierungen. Das hilft, gegenwärtige Risiken für Nistplätze, Wanderkorridore und Nahrungsnetze besser zu bewerten.
- Klimabezug: Warmwasserphasen schufen neue Habitate – und Verlierer in abkühlenden Phasen.
- Schutzperspektive: Fossile Daten zeigen, welche Küstenabschnitte langfristig stabil sind.
- Methodenlernen: CT, Morphometrie und saubere Stratigraphie stärken Aussagen jenseits bloßer Optik.
Zusatzwissen für kontext und praxis
Begriff erklärt: Stereogenyini bezeichnet eine ausgestorbene Linie mariner Schildkröten, die sich durch spezielle Panzergeometrien und Schädelmerkmale auszeichnet. Sie besetzte vom Eozän bis später verschiedene Küstenökosysteme rund um die Tethysreste.
Praxisbeispiel: Wer in Kalksteinbrüchen oder auf Baustellen Fossilien findet, sollte Fund, Schicht und Position fotografieren und sich an lokale geologische Behörden wenden. Eine grobe Maßangabe und die Gesteinsbeschreibung erhöhen den wissenschaftlichen Wert erheblich.
Risikoaspekt: Konflikte begünstigen illegalen Handel mit Fossilien. Sammlungen verlieren so zentrale Belege. Dokumentierte Übergaben – wie im Fall von Al‑Zarefekh – schützen Herkunftsdaten und sichern, dass Ergebnisse nachvollziehbar bleiben.
Vergleich mit heute: Moderne Meeresschildkröten zeigen ähnliche ökologische Spannbreiten zwischen Hochsee- und Küstenformen. Modelle koppeln Fossilproportionen mit Strömungsparametern, um Schwimmverhalten zu simulieren. Solche Simulationen liefern Hypothesen zu Jagdstrategien, Wanderstrecken und Energiesparmechanismen.
Ausblick: Jeder neue Fund im syrischen Küstenhinterland kann die Karte der eozänen Meere weiter verfeinern. Ziel bleibt eine dichte Zeitreihe – vom frühen Eozän über spätere Warmphasen – die Evolutionsschritte, Ausbreitungswege und Anpassungen mit Zahlen hinterlegt.



Wow, un fossile de tortue marine quasi complet en Syrie, 50 Ma et 53 cm de carapace — ça remet vraiment la lignée Stereogenyini en perspective ! Merci pour les détails sur la CT et la morphometrie.
Comment êtes-vous sûrs de l’âge exact: stratigraphie + microfaunes suffisent, ou avez‑vous aussi des marqueurs isotopiques? Le rapprochement avec Cordichelys antiqua ne me paraît pas totalement verrouillé.